Hermann Scherer, der Vorkämpfer gegen jegliches Mittelmass, hat in seinem neusten Newsletter einen interessanten Artikel geschrieben: „Warum wir uns keine hohen Ziele setzen“ (Seite 5 unten).
Dort zitiert er eine Studie – leider ohne genaue Quellenangabe – , die die fünfzig grössten Unternehmen im Dow Jones analysiert hat.
Laut dieser Studie verstehen nur 37 Prozent der Befragten genau, was ihr Unternehmen erreichen will und weshalb. Nur 20 Prozent sind begeistert von den Zielen ihres Teams und ihres Unternehmens. Und genau so wenige – 20 Prozent – sagten, ihre Aufgaben seien auf die Ziele ihres Teams und des Unternehmens ausgerichtet.
Lesen Sie, was das für Ihre Ziele heisst und was diese Zahlen mit einem Esel zu tun haben.Das ungenutzte Potential
Die eben erwähnten Zahlen sind die drei Schlüsselzahlen aus der Studie. Hermann Scherer zitiert noch weitere Zahlen im Newsletter, die für uns hier weniger wichtig sind. Viel wichtiger ist seine Schlussfolgerung: Scherer schliesst daraus, dass in diesen Unternehmen – immerhin gehören die zu den grössten Unternehmen der Welt! – ein riesiges Potential brach liegt. Oder im Umkehrschluss:
„So viel Platz ist da oben in der Spitze!“
Das sind denkwürdige Zahlen. Mir fallen zwei Interpretationsmöglichkeiten ein:
- Wer sich einigermassen schlaue Ziele setzt und konsequent danach strebt, kann nur auf die Erfolgsstrasse einbiegen. So ähnlich sieht es offenbar auch Scherer.
- Ziele sind vielleicht doch nicht so wichtig und erfolgreich wie immer angenommen.
Die zweite Variante mag die etwas pessimistischere sein. Damit würde ich mich auch gegen ziemlich grosse und bekannte Produktivitätstrainer wie Lothar Seiwert oder Brian Tracy wenden. Schliesslich gelten ja Ziele als wichtiges Element zu mehr Produktivität, auch wenn die Begründungen dafür häufig nicht stimmen.
Vielleicht müssen wir einfach von den Rezepten und Methoden für alle wegkommen. Ich persönlich bin zwar auch überzeugt:
- Ziele sind ein wichtiges Element zum produktiven Arbeiten.
- Ziele motivieren, treiben voran, helfen der Effektivität und auch der Effizienz.
- Erfolgreiche Menschen haben Ziele und verfolgen diese Ziele aktiv.
Aber gleichzeitig glaube ich auch:
- Nicht jeder braucht Ziele. Ziele entfalten ihre Wirkung besonders dann, wenn man viel Freiraum hat und nutzen kann. Das haben jedoch längst nicht alle von uns.
Ziele und Motivation
Wir können uns auf zwei Arten motivieren: Über die intrinsische oder die extrinsische Motivation. Verkürzt gesagt:
- Läuft der Esel, weil ihm eine Karotte vor der Nase baummelt, ist er extrinsisch motiviert.
- Läuft der Esel, weil er laufen will, ist er intrinsisch motiviert.
Die intrinsische Motivation ist die Leidenschaft, das innere Feuer. Sie ist häufig nachhaltiger und erfolgsversprechender.
Doch wie ist die Realität?
Gibt es nicht viele Menschen, die nur arbeiten, um ihre Freizeit finanzieren zu können? Vielleicht machen sie ihren Job ganz gerne, doch ohne grosse Leidenschaft. Gibt es nicht auch viele Menschen, die sich gerne sagen lassen, was sie tun sollen und das dann so tun?
Das sage ich völlig wertfrei als Beobachtung. Nur darf nicht vergessen werden: Menschen, die ihren Beruf als eine Art Berufung sehen und leidenschaftlich gerne arbeiten, sind wohl in der Minderheit. Dieser Minderheit helfen Ziele zweifellos.
Den anderen Menschen, deren Arbeit einfach „nur ein Job“ ist, helfen Ziele vermutlich nicht allzu viel. Wozu auch? Sie tun das, was ihnen gesagt wird. Sie tun es vielleicht sogar gerne und sind zufrieden – keine Frage. Aber sie definieren sich nicht über die Arbeit. Ziele kennen sie nur aus dem Mitarbeitergespräch. Und die sind erst noch „befohlen“ und selten ausgehandelt.
Mein Fazit
So nützlich ich das Instrument der Ziele finde, denke ich doch, dass man es mit Augenmass nutzen soll. Wer schneller an die Spitze kommen will, hat damit ein sehr nützliches Instrument in der Hand. Wer jedoch nicht will, dem nützen Ziele nicht nur nichts, sondern demotivieren ihn vielleicht sogar noch.
Das ist auch die Erfahrung, die ich in meinen Seminaren mache. Wer freiwillig kommt, will etwas verändern und lernt gerne etwas über Ziele und Zeitmanagement. Es gibt jedoch immer einige Teilnehmer, die kommen auf „sanften Druck“ vom Chef oder weil die ganze Abteilung ins Seminar gehen „darf“. Das sind häufig Menschen, die sich nicht unbedingt über ihre Arbeit definieren und deren Begeisterung sich in Grenzen hält. Hier ist der Lerneffekt – sagen wir mal – suboptimal.
Spreche ich mich hier also für oder gegen das Setzen von Zielen aus? Na, ganz klar: Für beides.
Wer mich kennt, weiss: Ich wehre mich mich dagegen, neue Dinge sofort abzulehnen. Ich rate immer zu Experimenten und zum Sammeln von eigenen Erfahrungen. Gleichzeitig glaube ich nicht an universelle Instrumente und Patentlösungen. Deshalb wende ich ein Instrument lieber mit Augenmass an – was auch heissen kann, es eben nicht anzuwenden.
Also: Ziele setzen kann Ihre Produktivität massiv steigern. Probieren Sie es während mindestens einem halben Jahr aus! Funktionieren Ziele in Ihrem Fall nicht, dann lassen Sie sie getrost weg und lesen Sie beispielsweise den Artikel „The best goal is no goal“ von Leo Babauta.
P.S.: Nebenbei: Hermann Scherer argumentiert in seinem Artikel, dass die allermeisten Menschen nach Mittelmass streben. Deshalb sei der Wettbewerb bei den realistischen Zielen am schärfsten und damit auch der Zeit- und Energieaufwand. Und wieder im Umkehrschluss: Es ist leichter das Unrealistische zu erreichen, als das Realistische. Spannender Gedanke!
P.P.S.: Sind Sie an einem wirklich interessanten Newsletter – neben dem von ivanblatter.com :-) – interessiert, dann abonnieren Sie den von Hermann Scherer. Immer lesenswert!