Schon Paracelsus wusste es: „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.“
Diese Regel macht auch nicht vor dem Zeitmanagement Halt. Man kann es nämlich durchaus auch hier übertreiben.
Bereits in meinem Buch „Arbeite klüger – nicht härter“ habe ich ein ganzes Kapitel diesem Phänomen gewidmet, der „dunklen Seite des Zeitmanagements“.
Die Problematik ist real und aktuell. Im Englischen gibt es dafür sogar einen speziellen Begriff, nämlich „Toxic Productivity“.
Bei der Produktivität kann man es also übertreiben – und zwar so sehr, dass man am Schluss mehr Nachteile als Vorteile hat.
Was ist „Toxic Productivity“?
Es geht darum, dass jemand immer produktiv sein will und deshalb alle möglichen Bemühungen ergreift und Methoden ausprobiert bis er nicht mehr stoppen kann. Auch nicht, wenn die Aufgabe erledigt ist.
Eine höhere Produktivität wird dann zur Besessenheit und zur Sucht. Und das zieht sich dann häufig nicht nur durch die Arbeit selbst, sondern durch das ganze Leben, also auch in den privaten Bereich.
Plötzlich schafft man es nicht mehr, irgendetwas einfach zu tun, aus Lust und Freude an der Sache. Alles muss uns dann zu einem Ziel bringen oder zu einer persönlichen Weiterentwicklung führen. Sogar die Freizeit muss dann produktiv gestaltet sein.
Ein Spaziergang um des Spazierens Willen ist nicht mehr möglich. Man spaziert, um seine 10’000 Schritte zu erreichen. Man geht, bis dieses Ziel erreicht ist. Punkt.
Das allein reicht aber auch noch nicht. Wenn die Beine gehen, hat der Kopf ja nichts zu tun und das ist verlorene Zeit. Deshalb hört man dabei noch einen Podcast zur Selbstoptimierung.
Das klingt jetzt überspitzt, aber es gibt tatsächlich Menschen, die darunter leiden und die hinterfragen und kritisieren sich auch immer selbst, weil sie sich gar nie genügen können. Es gibt ja immer etwas zu optimieren.
Genau genommen, geht es gar nicht mehr darum, das zu erreichen, was man erreichen will. Das Ziel ist auch gar nicht klar und definiert. Von Interesse ist immer der nächste Schritt. Noch eins drauf. Noch besser und produktiver.
Worauf das Ganze hinauslaufen soll? Darauf kommt’s nicht an.
Weshalb ist Toxic Productivity ein Problem?
Bei der Toxic Productivity geht es nicht mehr darum, etwas mit viel Engagement, Commitment und Herzblut zu tun. Es geht nicht mehr darum, bestrebt zu sein, besser zu werden und sich weiter zu entwickeln, seine Produktivität zu erhöhen, um besser zu seinem Ziel zu kommen.
Hier steht die Besessenheit im Vordergrund. Man ist ständig „busy“ und hat trotzdem das Gefühl, nicht genug zu tun.
Häufig hat jemand, der unter Toxic Productivity leidet, auch das Gefühl, eigentlich ein Hochstapler zu sein, ein Imposter. Gegen außen wirkt er extrem aktiv, aber er genügt sich ja nicht. Das führt dann zu einer Diskrepanz zwischen dem, wie er wahrgenommen wird und wie er sich selbst wahrnimmt.
„Hoffentlich merkt niemand, dass ich gar nicht so gut bin.“
Das führt zu einem immensen Druck und kann sogar auch zu einem Burnout führen.
Auch für das Umfeld, die Familie, kann Toxic Productivity Gift sein. Wenn z.B. gemeinsame Seins-Zeit weniger wichtig ist, als den Bewegungsring auf der Apple Watch zu schließen. Oder wenn Langeweile, die etwas Wichtiges ist, gar nicht mehr zugelassen wird.
Toxic Productivity kann wirklich zur Sucht werden. Erreichst du etwas, freust du dich und es wird Dopamin ausgeschüttet. Das fühlt sich gut an. Bist du in einem solchen umtriebigen Modus, darauf fokussiert etwas zu erreichen, steigt das Adrenalin im Körper. Nach dem nächsten Level kommt wieder Dopamin dazu etc. Das wechselt sich ab und schaukelt sich hoch.
Mit der Zeit entwickelt dein Körper eine Toleranz dafür, so dass du immer mehr Dopamin und Adrenalin brauchst. Dann beginnt die Sucht nach Produktivität, nach dem Abhaken von To-dos, nach dem Erreichen von Zielen.
Und spätestens dann hast du ein Problem, weil es dir mentale und physische Energie entzieht, wenn du immer „angeknipst“ bist, wenn du immer tust, wenn du keine Pausen mehr zulassen kannst, keine sinnlose Zeit, keine Muße und nichts.
Fehlt diese mentale und physische Energie, führt das zu einer geringeren Produktivität, zu weniger Motivation und definitiv zu weniger Effizienz.
Nun bist du im Teufelskreis gefangen. Dann versuchst du, noch mehr und noch mehr zu machen. So entziehst du dir noch mehr Energie und erreichst noch weniger.
Dann sind wir bei der Erschöpfung, beim Burnout.
Kurz gesagt: Die Toxic Productivity führt im Endeffekt also zu einer geringen Produktivität – ganz zu schweigen vom gesundheitlichen Aspekt.
Weshalb ist Toxic Productivity heute ein Thema?
Eigentlich ist es ja gut, produktiv zu sein. Aber wie kommt es, dass wir manchmal die Grenze nicht mehr sehen?
Ich glaube, das hat definitiv etwas mit unserer heutigen Zeit zu tun. Es scheint eine Erwartung zu geben, immer top zu sein, das Optimum zu leben. Manchmal besteht diese Erwartung tatsächlich, manchmal wird sie aber auch nur gefühlt. Man meint, man müsse…
Zudem gibt es diese unsägliche Hustle-Kultur: Man muss (scheinbar!) immer machen, immer tun. Am besten auch mehrere Dinge gleichzeitig. Wir haben ja schließlich zwei Hände, zwei Beine und einen Kopf. Da ist problemlos mehr auf einmal möglich.
Diese Hustle-Kultur ist ungesund. Sie ist aber real, gerade auch im Online-Business, Online-Marketing etc. Und es besteht ein unglaublicher Wettbewerb. Da kann man sich nicht so einfach ausklinken, weil es ja auch um Existenzen geht.
Die Konkurrenz schläft nicht und wenn sie vielleicht noch härter arbeitet, noch weniger schläft, sich noch mehr ausbeutet, hat sie am Schluss vielleicht tatsächlich die Nase vorn.
Also machen wir mit bei diesem Hustle-Game.
Das hat sich während der Corona-Pandemie noch verstärkt. Viele haben das Gefühl, sie müssten sich beweisen. Gerade im Home-Office meinen viele, ständig zeigen zu müssen, dass sie verfügbar sind und hart arbeiten, auch wenn sie zuhause sind. Das setzt viele Menschen unter Druck.
Ich bin ein großer Verfechter von Home-Office, bin mir aber bewusst, dass es nicht für jeden geeignet ist. Gerade die, die etwas Mühe haben, eine Grenze zu ziehen zwischen Arbeit und Freizeit oder die, die diesen Druck empfinden, sich immer beweisen zu müssen, für die ist Home-Office nicht nur toll. Viele dieser Menschen überkompensieren dann, weil sie eben nicht im Büro sitzen.
Gleichzeitig leben wir in Zeiten von Unsicherheit oder sogar von Angst. Und so paradox es klingt, Toxic Productivity gibt uns auch Sicherheit. Wir wissen, dass wir hier noch ein wenig schrauben, noch produktiver werden und noch mehr erreichen können. Das gibt uns auch ein gewisses Gefühl der Sicherheit.
Was können wir dagegen tun?
Die Gründe können wir kaum beeinflussen. Sie sind ein Zeichen der Zeit und eine kulturelle Geschichte – entweder eine gesellschaftliche oder eine unternehmenskulturelle Geschichte. Aber wir können sehr wohl etwas tun.
Ich habe hier fünf Lösungen, wie du der Toxic Productivity begegnen kannst.
1. Plane bewusst gute Pausen ein
Du weißt, was eine gute Pause ist. Eine gute Pause ist nicht einfach mal zehn Minuten auf Facebook zu surfen und Spiegel-Online lesen.
Eine gute Pause heißt: aufstehen, an die frische Luft, sich ein bisschen bewegen, recken, strecken, bewusst ein Glas Wasser trinken, etc..
Plane bewusst solche Pausen ein. Die schenkt dir nämlich niemand. Wenn du diese nicht bewusst planst und durchsetzt, werden sie sehr schnell überschrieben durch Aufgaben, Meetings, Anrufe etc.
2. Gönne dir mehrmals pro Tag bildschirmfreie Zeit
Das ist eine Herausforderung, auch für mich. Gerade wenn man überwiegend digital organisiert ist, beruflich und privat, kann das schwierig werden. Man hat dann immer in irgendeiner Form einen Bildschirm vor der Nase.
Tu’s trotzdem! Es tut deinen Augen, deinem Körper, deiner Seele gut.
Plane bewusst bildschirmfreie Zeit ein. Bei der Arbeit könntest du z.B. ein Brainstorming mal auf Papier machen etc. In der Freizeit ist die Auswahl an „analogen Tätigkeiten“ ja ohnehin groß.
Im Endeffekt geht es darum, bewusst etwas anderes zu machen.
3. Nimm dir freie Zeit, um aufzutanken
Gerade wenn du bei dir eine Tendenz zur Toxic Productivity feststellst, dann schaffe dir unbedingt Zeitfenster, in denen du bewusst neue Energie schöpfen kannst.
Also, spazieren, ohne Podcast oder Musik zu hören oder die 10’000 Schritte erfüllen zu wollen, sondern einfach nur, um sich ein bisschen an der frischen Luft zu bewegen. Oder sich einfach mal auf den Balkon setzen und in die Wolken schauen.
Hier gilt dasselbe wie bei den Pausen. Plane diese Zeiten bewusst ein und trag sie dir in den Kalender ein. Ansonsten wirst du diese Zeit immer mit etwas Produktivem ausfüllen wollen.
4. Setze dir gute Regeln
Das könnte sein: „Ich nutze kein Smartphone während den Mahlzeiten.“ oder „Ich mache alle drei Stunden eine echte Pause.“ oder „Der Samstag ist immer exklusiv für die Familie reserviert und dann machen wir was Tolles zusammen.“ oder „Ich schlafe mindestens sieben Stunden pro Nacht.“ oder „Ich esse mindestens zwei richtige Mahlzeiten an einem richtigen Tisch, wo kein Computer draufsteht, und konzentriere mich aufs Essen und sonst auf überhaupt nichts.“ etc.
Immer mit Augenmaß. Gerade wenn du einen Hang zur Toxic Productivity hast, kann es sein, dass du schnell ins andere Extrem fällst. Verordne dir nicht gerade jeden Tag fünf Stunden digitale Abstinenz oder jede Stunde eine echte Pause. Beginne langsam und so, dass es zu dir und zu deiner jetzigen Situation passt.
5. Suche dir professionelle Hilfe
Wenn du wirklich schon in dieser Toxic Productivity-Spirale drin bist und du merkst, dass am fernen Horizont die Burnout-Flagge flattert, dann nimm unbedingt professionelle Hilfe in Anspruch. Der Preis, einfach so weiterzumachen, ist viel zu hoch.
Sich helfen zu lassen, ist keine Schwäche – im Gegenteil. Es ist ein Zeichen von Stärke. Die braucht es nämlich, um sich einzugestehen, dass man hier ein Thema hat, das man selbst nicht lösen kann.
Das Thema „Toxic Productivity“ liegt mir am Herzen – gerade weil ich auf dem Gebiet Produktivität und Zeitmanagement unterwegs bin.
Mein Verständnis von hoher Produktivität hat nichts gemein mit dem „schneller, höher, besser und immer mehr“-Hype.
Dort bleibt nämlich über kurz oder lang der Mensch auf der Strecke. Bei einer höheren Produktivität, wie ich sie verstehe, geht es eben gerade nicht darum, noch fester aufs Gaspedal zu treten, sondern entspannter anzukommen.
Es gibt durchaus ein gutes, gesundes und pragmatisches Zeitmanagement. Und meistens ist Zeitmanagement auch nur der Anfang, ein Teil vom Ganzen. Und vor allem geht es um gute Gewohnheiten, damit du wirklich nachhaltig etwas veränderst.
In diesem Sinne: Nutze deine Zeit, denn sie kommt nie wieder – aber übertreibe es nicht dabei. ;-)